Blog 12.01.2023

«Kunden und Kundinnen entscheiden darüber, ob ein Unternehmen Erfolg hat oder nicht.»

In dieser Ausgabe stehen die Kunden im Zentrum. Gudrun Ziermann, ehemalige Leiterin des Bereichs Customer Centricity bei der Mobiliar, erklärt uns, was man unter Kundenzentrierung (Customer Centricity) versteht, was das Ganze mit der digitalen Transformation zu tun hat und wie man ein Unternehmen kundenzentriert aufstellt.
Gudrun Ziermann

Kundenfokus eines Produkts: Das tönt auf den ersten Blick nach etwas, das eigentlich selbstverständlich sein sollte. Wie nimmst du das wahr?

Wenn du Mitarbeiter eines Unternehmens fragst, ob sich ihre Produkte und Prozesse am Kunden orientieren, wirst du als Antwort immer ein überzeugtes JA erhalten. Die Vertriebsmitarbeiter sind tagtäglich ganz nah am Kunden und sehen, wie Produkte und Prozesse dort ankommen. Die Service-Mitarbeiter erleben ebenfalls hautnah, wo der Schuh drückt und spielen dieses Feedback zurück in die Organisation. Das ist wichtig – aber genau das ist auch das Problem. Kundenorientierung ist stark reaktiv. Ich schau, was der Kunde mir zurückmeldet, und dann verbessere ich etwas, was es schon gibt. Kundenzentrierung geht hier einen deutlichen Schritt weiter. Kundenzentrierung heisst, von Anfang an, also noch bevor ein Produkt entwickelt oder ein Prozess gestaltet wird, das Bedürfnis der Kunden in den Fokus zu stellen, zukünftige Erwartungen und Verhaltensweisen zu antizipieren und die komplette Wertschöpfungskette am Kundenerlebnis auszurichten. Dabei ist es wichtig, die ideale Balance zu finden zwischen dem, was die Kunden wollen und dem, was das Unternehmen braucht. Es gilt also abzuwägen zwischen Kundenerlebnis, Wirtschaftlichkeit und technischer Machbarkeit. Bei vielen Unternehmen ist Customer Experience bereits ein Thema. Konsequente Customer Centricity dagegen steckt noch in den Kinderschuhen. Die grösseren Unternehmen fangen gerade damit an.

Wieso ist Kundenzentrierung gerade in der digitalen Transformation so wichtig?

Die Digitalisierung ermöglicht neue, skalierbare Geschäftsmodelle, indem zum Beispiel Kundenbedürfnisse mittels automatisierter Prozesse befriedigt werden können. Digitalisierung erhöht also das Tempo und verändert dabei auch die Spielregeln. Die Kunden entscheiden, ob ein Unternehmen erfolgreich ist – nicht nur, indem sie ein bestimmtes Produkt kaufen, sondern vor allem auch, indem sie es bewerten und weiterempfehlen. Nie war es so einfach, Produkte zu vergleichen, ohne sie jemals in der Hand gehalten zu haben. Hinzu kommt, dass die Konkurrenz nur einen Klick entfernt ist. Das erhöht den Druck auf die Unternehmen, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen und den Kunden besser zu verstehen.

Sind Produkte und Dienstleistungen mit hohem Kundenfokus denn so anders?

Das ist eine schwierige Frage, die ich oft gestellt bekomme. Unternehmen differenzieren sich zunehmend über bewusst gestaltete und perfekt verzahnte Kundenerlebnisse. Es geht also nicht nur um das Produkt oder die Dienstleistung an sich, sondern auch um das ganze Erlebnis vor, während und nach dem Kauf. Wenn ich heute ein Produkt aus der Innensicht des Unternehmens entwickle, dann bringe ich irgendwann ein neues Produkt auf den Markt. Wenn ich vorab Kundenbedürfnisse evaluiere und analysiere, den Kunden vielleicht sogar in die Produktentwicklung mit einbinde, dann gebe ich am Ende auch ein neues Produkt auf den Markt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein neues Produkt die Bedürfnisse und Erwartungen meiner Zielgruppe exakt trifft, also aus Sicht der Kunden eine echte Lösung darstellt, ist bei einem kundenzentrierten Ansatz allerdings deutlich höher. Deshalb ist es wichtig, dem Kunden im Unternehmen eine Stimme zu geben. Das verändert die Arbeitsweise und bringt neue Routinen ins Unternehmen, weil ich mich schon zu Beginn einer Entwicklung mit dem Kundenbedürfnis auseinandersetze und mir Frage stelle wie: Welche Trends sind für meine Zielgruppe relevant? Wo und wie wird sich das Verhalten meiner Kunden zukünftig verändern? Wo hat es Lücken im Kundenerlebnis? Erst dann beschäftige ich mich mit den internen Stärken und Fähigkeiten meines Unternehmens. Wo kann ich ansetzen und mit meinen Produkten eine Lösung bieten?

Wie gebe ich denn dem Kunden eine Stimme im Unternehmen? Frage ich ihn einfach, was er will?

Kunden wollen immer alles, am besten gratis und am liebsten sofort. Wenn man die Kunden fragt, welches neue Produkt sie wollen, dann referenzieren sie meist auf das, was sie schon kennen. Innovativ kann ich aber nur dann sein, wenn ich verstehe, was das Grundbedürfnis meiner Kunden ist. Das sieht man auch im altbekannten Beispiel von Henry Ford, der das Bedürfnis nach mehr Mobilität und Komfort erkannt hat, anstatt dem offensichtlichen Kundenwunsch nach schnelleren Pferden gerecht zu werden. Besser als die Kunden zu fragen, was sie wollen, ist es deshalb, die Kunden zu beobachten, ihre Bedürfnisse zu verstehen und ihre Verhaltensmuster zu erkennen. Das mache ich am besten über Befragungen und Beobachtungen, aber auch, indem ich Kunden im Sinne von Co-Creation direkt in den Entwicklungsprozess einbinde – und zwar entlang der gesamten Customer Journey.

Muss ich mich als Unternehmen entscheiden: Entweder digitale Transformation oder Kundenzentrierung?

Digitale Transformation und Kundenzentrierung können wunderbar Hand in Hand gehen. Wenn ich damit beginne Prozesse zu digitalisieren, verändert dies alle Bereiche des Unternehmens. Das ist eine gute Gelegenheit, auch überall die Kundenzentrierung zu verankern und den kundenzentrierten Ansatz von Anfang an in Neuentwicklungen einzubetten.  Es ist keine Entweder-Oder-Entscheidung. Es geht nur beides. Die digitale Transformation kann nur dann gelingen, wenn sie konsequent und von Anfang an den Kunden in den Fokus stellt.

Überblick über die wichtigsten Begriffe

  • Unter Kundenzentrierung versteht man die konsequente Ausrichtung aller Geschäftsprozesse innerhalb eines Unternehmens auf den Kunden. Zum Beispiel «kundenzentrierte Entwicklung» (Outside In) im Gegensatz zur «produktezentrierten Entwicklung» (Inside Out). Das heisst aber nicht, dass nur noch bei allem der Kunde im Fokus steht – vielmehr braucht es beides, allerdings in der richtigen Reihenfolge. Erst kundenzentriert, dann produktezentriert. Dabei ist es für Unternehmen wichtig, die Balance zu halten zwischen dem Kundenerlebnis, der technischen Machbarkeit und der Wirtschaftlichkeit.
  • Kundenerlebnis ist das, was beim Kunden ankommt, wie der Kunde ein Produkt, einen Prozess, die Interaktion mit einem Unternehmen erlebt und empfindet – und, im Zeitalter der digitalen Medien, auch bewertet, teilt und verbreitet. Der Kunde entscheidet, ob ein Produkt erfolgreich ist, nicht nur, indem er es kauft oder nicht kauft, sondern auch indem er es in den sozialen Medien positiv oder negativ bewertet, indem er seine Erfahrungen mit dem Produkt und der Marke teilt.
  • Um ein gutes Kundenerlebnis zu gestalten, ist es wichtig, das Kundenbedürfnis (Probleme und Herausforderungen des Kunden, Erwartungen, Verhaltensmuster) zu kennen, zu verstehen und für die nahe Zukunft zu antizipieren. Kunden suchen heute nach Lösungen (Ökosystem) und Erlebnissen. Im Zeitalter der Digitalisierung ist die Alternative zu meinem Produkt oder meiner Dienstleistung für den Kunden immer nur einen Klick entfernt. Marken werden schnell austauschbar, wenn sie es versäumen, sich über ein besonderes Kundenerlebnis zu differenzieren.
  • Eine Kundenerlebniskette (Customer Journey) ist ein Instrument, um im Idealfall gemeinsam mit dem Kunden (Co-Creation) vom aktuellen Prozess, der «Ist Customer Journey» zum optimierten Prozess, der «Soll Customer Journey» zu kommen. Dabei ist es wichtig, end-to-end und möglichst transversal und vernetzt zu denken.

Über Gudrun Ziermann

Seit 25 Jahren begleitet Gudrun Ziermann für unterschiedliche Unternehmen und Branchen digitale Projekte und Vorhaben auf ihrem Weg von der Idee zur Umsetzung. Bereits Ende der 90er-Jahre war sie im eCommerce tätig und hat den Online-Versandhandel in Deutschland von Beginn an mit aufgebaut. Sie war als Head of Digital Business Consulting bei einer international agierenden finnischen Technologie-Unternehmensberatung zuständig für den europäischen Markt und hat dort vor allem Kunden aus dem Finanzsektor und der Telekommunikationsbranche betreut.

2010 kam sie in die Schweiz, um für die Swisscom die Online-Services für Geschäftskunden aufzubauen. 2016 wechselte sie zur Mobiliar und war dort für die strategische Weiterentwicklung der digitalen Zugänge sowie für die Verankerung der Kundenzentrierung im Unternehmen zuständig. Heute engagiert sie sich für die digitale Transformation und neue Arbeitsformen im Kanton Graubünden. Ihr aktuelles Projekt ist der Aufbau eines Coworking Spaces in Ilanz. In der realen Welt trifft man sie vor allem in den Bergen, beim Skifahren, Bergsteigen oder Klettern.